Geseko von Lüpke – Exklusiv-Interview

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Geseko von Lüpke – Exklusiv-Interview

Mi., 16/02/2022 - 10:07
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Dr. Geseko von Lüpke über Biodiversität, den Zustand der Welt, Wege aus der Krise und die Bedeutung der Natur;

im Gespräch mit Roland Günter, Redakteur der Zeitschrift MAKROFOTO.

Ich halte mich seit mehreren Jahrzehnten intensiv in der Natur auf und beobachte, erforsche und dokumentiere viele Tiere und deren Beziehungen zu Pflanzen. Hierbei erlebe ich unmittelbar, was längst vielfach belegt ist: den Zusammenbruch der biologischen Vielfalt durch das Einwirken des Menschen. Unzählige Pflanzen und Tiere verschwinden aus der freien Landschaft. Warum gelingt es uns bisher nicht, die durch uns selbst verursachte Zerstörung aufzuhalten? 
Darüber spreche ich mit Dr. Geseko von Lüpke. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit ökologischer Ethik, neuen Ansätzen in Kultur und Wissenschaft, nachhaltigen Zukunftsprojekten in aller Welt und der Suche nach einem ökologischen Weltbild. 

 

 

Teil 1 - Der Mensch & die Welt – eine Bestandsaufnahme

Roland Günter: Geseko, uns beide verbindet unsere ähnliche Wahrnehmung der Natur – einer Natur, die in der Form, wie wir sie bisher kennen, zunehmend zerstört wird. Befinden sich die Menschen in einer Sackgasse?

Geseko von Lübke: Betrachtet man die Entwicklung, die uns seit vielen hundert Jahren zu dem heutigen Zeitpunkt geführt hat, drängt sich das Bild einer Sackgasse auf. Wir befinden uns an einem Punkt, von dem aus das Ende eines industriellen Wachstumssystems sehr sichtbar wird; Krisenphänomene nehmen immer mehr zu. Aus meiner Sicht ist Krise jedoch nicht notwendigerweise mit Katastrophe und Weltuntergang gleichzusetzen, was 'Sackgasse' heißen würde. Sondern diese Krise ist auch ein Hinweise dafür, dass unsere bisherige Weltsicht und unser bisheriger Umgang mit der Welt dringend nach Korrektur, dringend nach einem neuen Narrativ, nach einem neuen Weltbild, nach einem neuen Selbstverständnis verlangt, wer wir als Menschen in der Welt sind und welche Aufgabe wir haben. Bisher hatten wir es mit vielen einzelnen Krisen zu tun. Nun befinden wir uns in einem Übergang zu einer nicht mehr lösbaren Megakrise, die möglicherweise zu sehr schwierigen klimatischen, sozialen und politischen Umbrüchen führen wird, welche uns dann in ein dunkles Zeitalter bringen, dessen Dunkelheit in seiner Länge und Tiefe noch offen ist. Wir sind jetzt dringend gefordert, mit dieser Krise kreativ umzugehen.

Lebensstandard vs. Lebensqualität

RG: Du sprachst am Anfang von der industriellen Wachstumsgesellschaft als vorläufigem Höhepunkt der Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Nun ist materieller Wohlstand heute für die meisten Menschen von sehr großer Bedeutung. Viele namhafte Wissenschaftler wie Dr. Eileen Crist, US-amerikanische Soziologin, oder die Systemtheoretikerin, Umweltaktivistin und Pionierin der Tiefenökologie, Dr. Joanna Macy, sagen jedoch, dass wir ohne Reduktion unseres materiellen Wohlstands keinen Einklang zwischen der Natur und uns Menschen werden herstellen können. Wir spüren die Verbindung zum Leben nicht mehr.

GvL: Wir müssen hier grundsätzlich zwischen Lebensstandard und Lebensqualität unterscheiden. Unsere Vorstellung von Lebensstandard unterliegt einem wirtschaftlichen Paradigma, das auf ständiges Wachstum und die Zunahme von Konsumprodukten aus ist und die Fortsetzung eines jetzt 150 Jahre währenden Feuerwerks der industriellen Revolution bildet. Dieses Feuerwerk geht zu Ende, weil die Energie, die wir brauchten, um dieses Feuerwerk auszulösen, immer weniger wird und die Konsequenzen des Verbrennens von fossilen Rohstoffen immer dramatischer werden.

Gesellschaften, die einen hohen Lebensstandard haben, kippen irgendwann in eine Art kollektive Depression

Die Reduktion des Outputs unserer heutigen Gesellschaft bezieht sich auf dieses Stichwort des Lebensstandards im Sinne von materieller Produktion, im Sinne von Lebens-Luxus. Das muss ganz deutlich unterschieden werden von den Zielen der Lebensqualität. Denn wir wissen mittlerweile aus vielen Untersuchungen, dass eine ständige Steigerung des Lebensstandards weder etwas mit unserem Lebensglück, unserer inneren Zufriedenheit oder der Fähigkeit, uns persönlich weiterzuentwickeln, noch mit der Weiterentwicklung unserer Kultur zu tun hat.

Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Gesellschaften, die einen hohen Lebensstandard haben, kippen irgendwann in eine Art kollektive Depression, weil sie den Lebenssinn und die Verbindung zum Leben nicht mehr spüren. Somit muss der Fokus heute einerseits auf einer Reduktion von der Produktion von Konsumgütern liegen – also weniger Lebensstandard –, dafür aber auf einer Erhöhung der Lebensqualität, die dann durchaus auch mit Verzicht zu tun hat oder mit Ideen wie mehr Reparatur, mehr Second-Hand, mehr kollektivem Besitz oder mit mehr Allmende statt Privatbesitz. Bei der Frage, was uns glücklich macht, geht es also um ein ganz neues Denken.

Wir haben die seit Jahrhunderten in vielen Religionen existierende Paradiesvision in ein Konsumparadies umgesetzt, sehen aber nun: Das ist es nicht. Auf diese Weise erreichen wir nicht den erhofften paradiesischen Zustand, sondern eine Zerstörung der Lebensgrundlagen. Die Folgen sind vermehrtes Unglück und depressive Grundstimmung, die sich zum Beispiel in der kollektiven Depression, in der ständigen Zunahme von psychologischen Erkrankungen und der ständig steigenden Einnahme von Psychopharmaka zeigt. Hier wird sehr deutlich sichtbar, dass der angeblich so reiche Westen, der sein Modell der ganzen Welt aufdrücken will, an der Lebensqualität vorbei nur auf Lebensstandard setzt. Wir brauchen jedoch weniger Lebensstandard, weniger Konsum, weniger Löcher stopfen mit Produkten. Vielmehr brauchen wir mehr Sinn, mehr Verbundenheit, mehr Liebe, mehr Kooperation, mehr Solidarität – also mehr menschliche Qualitäten, die unser Glück erhöhen. Dann werden wir auch mit der Umwelt anders umgehen.

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RG: Es geht also nicht darum, viel zu besitzen, sondern glücklich zu sein?

GvL: Ja, aber wenn man das heute einem Betriebswirtschaftsstudenten sagt, dann sagt er: "Ich will aber Geld verdienen".

RG: Dieses Streben steht bei den meisten Menschen an erster Stelle – mit verheerenden Folgen nicht nur für sie selbst, sondern mittlerweile auch für das gesamte nichtmenschliche Leben auf der Erde. Nun suchen viele Menschen die Lösung im technischen Bereich; der Glaube an Technik ist in unserer Gesellschaft sehr stark ausgeprägt. Sie als einzigen Ausweg aus dieser dramatischen Lage zu sehen, halte ich für zu kurz gedacht. Wir brauchen beides: Reduktion in der Form, wie du es beschrieben hast, und intelligente Technik, um eine Art Grund-Wohlstand zu halten. Wir wollen ja schließlich nicht zurück ins Mittelalter.

Unser „Maschinen-Weltbild“ passt nicht mehr

GvL: Dieses Super-Vertrauen in die Technik hat auch einen philosophischen Hintergrund, der einige hundert Jahre bis zu Descartes und der Zeit der Aufklärung zurückgeht. Man ging davon aus, die Natur funktioniere wie eine große Maschine, gleich einem kosmischen Uhrwerk, und irgendwo wäre da vielleicht noch ein lieber Gott mit einer Ölkanne in der Hand, der zwischendurch dafür sorgt, dass die Zahnräder nicht ins Knirschen kommen. Aus diesem Verständnis heraus resultiert die Überzeugung, alles sei vorhersehbar und determiniert. Und je mehr Wissen und je mehr Werkzeuge wir in der Hand haben, desto mehr können wir an dieser Maschine herummanipulieren. Denn sie ist ja nur eine Maschine, und wir sind die einzigen mit Geist begabten Wesen.

Das bisherige „Maschinen-Weltbild“ liegt nach wie vor der Theorie unserer Naturwissenschaften zugrunde und führte natürlich auf der einen Seite zu so tollen Erfindungen wie Elektromotoren und Herzschrittmachern. Aber es führte auch zu einer zunehmenden Abtrennung und Isolation des Menschen, weil er sich als das einzige geistbegabte Wesen versteht. Aus dieser Haltung heraus leitet er für sich selbst das Recht ab, alle anderen Lebensformen und das Ökosystem Erde komplett zu manipulieren. So entstehen Ideen wie Geoengineering, bei dem irgendwelche Substanzen in den Himmel geschickt werden, um das Sonnenlicht zu reflektieren, damit der Klimawandel nachlässt. Hierbei besteht die Gefahr, dass daraufhin auf der Erde alles Leben ausstirbt. Dies wäre das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Solchen Ideen liegt nach wie vor das Verständnis einfachster Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zugrunde, reduziert auf ein Legokastendenken, bei dem ein Kästchen auf das andere, ein Atömchen auf das andere kommt und wir uns daraus ein Weltbild basteln. Solange dieses technische Verständnis vorherrscht, befinden wir uns in einer oberflächlichen Weltwahrnehmung.
 

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Die Welt als Organismus

Mittlerweile tut sich ein anderes Weltbild auch in der klassischen Naturwissenschaft auf, die zunehmend an ihre Grenzen kommt. Der Welt liegt neben einer materiellen Struktur auch eine geistige zugrunde. Sie verfügt über eine eigene Intelligenz, die nicht unbedingt reflektiv sein muss. Es handelt sich dabei vielmehr um eine systemische Intelligenz, eine „organismische“ Intelligenz, von der wir ein Teil sind. Diese Erkenntnis führt zu einem ganz neuen Verständnis, das die Welt als einen Organismus, als ein sich selbst regulierendes, selbst korrigierendes, sich selbst weiterentwickelndes evolutionäres System sieht. Unser bisheriges mechanistisches Denken ist davon nur ein kleiner, oberflächlicher Teil. Diesen müssen wir in ein viel größeres und partnerschaftliches Netzwerk-Denken übersetzen, in dem wir es mit ganz anderen Komplexitäten und Zusammenhängen zu tun haben; alles ist viel größer, viel tiefer. Deshalb unterscheidet man zwischen einer auf das Technische reduzierten, oberflächlichen Ökologie („Shallow Ecology“) und einer Netzwerk-Denkweise, die in manchen Kreisen die „Deep Ecology“, die „Tiefe Ökologie“, genannt wird.

Wissen führt nicht automatisch zu Veränderung

RG: Nun hat unser bisheriges Weltbild und der daraus resultierende technische Fortschritt zum Bau allerlei bewundernswerter Dinge geführt: Ich denke beispielsweise an multifunktionale Smartphones, intelligente Autos oder High-Tech-Windkrafträder zur Gewinnung regenerativer Energie. Aber unterm Strich hat das alles zu keiner Einsparung, zu keiner Reduktion geführt. Unsere Autos verbrauchen nach wie vor keine drei Liter, sondern in etwa genau so viel wie vor Jahrzehnten; dafür sind sie aber deutlich schwerer geworden und bieten wesentlich mehr raffinierte Technik und Automation, die uns das Fahren verschönern. Das gleiche Bild zeigt sich bei vielen anderen Entwicklungen: Sie führten weniger zu Ressourcen-Reduktion als vielmehr zur Erhöhung von materiellem Lebensstandard. Hier muss noch eine Menge korrigiert werden.
Ich komme bei meinen Vortragsveranstaltungen mit vielen Menschen zusammen. Mir fällt auf, dass seit einigen Jahren die Anzahl derjenigen Menschen deutlich zunimmt, denen bewusst wird, dass wir auf dem aktuellen Wohlstandsniveau nicht weiterleben können, ohne die Lebensgrundlagen sowohl der Menschen als auch unzähliger weiterer Lebewesen dieses Planeten zu zerstören. Ich neige sogar zu dem Glauben, dass mittlerweile den meisten Menschen die selbstzerstörerische Kraft unserer Lebensweise bekannt ist.

Warum machen sie trotzdem weiter wie bisher?

Das ist ein kurzer Ausschnitt aus dem langen Interview mit Dr. Geseko von Lüpke aus unserer MAKROFOTO-Spezial Nr. 3. Warum Verdrängung eine Gefahr ist, wie Du aus ihr heraus kommst, um Dich für den Erhalt der Natur einzusetzen, und welche Rolle die "NATUR IM GARTEN" dabei spielen kann, beantwortet Dr. Geseko von Lüpke im zweiten Teil des Gesprächs in unserer Sonderausgabe.

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